In einem Land mit 1% Christentum Evangelische Theologie studieren, geht das überhaupt? Naja, man kann’s ja mal probieren – dachte ich mir, wenn es schon ein fertig organisiertes Studienprogramm japanischer Religionen gibt. Und da die Zahlen des Christentums auch in Deutschland sinken, ist es vielleicht ein zukunftsweisender Kontext, den es lohnt von verschiedenen Perspektiven zu untersuchen. Für sieben Monate war ich in der ehemaligen Hauptstadt Kyoto untergebracht und studierte an einem kleinen Institut direkt neben der Sommerresidenz des Kaisers.

Mit Tokyo kann es diese Millionenstadt nicht aufnehmen, doch an Charme übertrifft sie es sogar. Kyoto gilt auch als religiöses Zentrum Japans – die Tempeldichte ist am höchsten und bescherte mir viele verschiedene Exkursionen. Sie ist wie Stuttgart in einem Tal gelegen – aber die Luft ist besser und fahrradfreundlicher ist sie allemal. Ein schmaler Fluss durchzieht die Stadt mit Schachbrettmuster direkt in der Mitte, wo man im Sommer entspannt sein Bier (standardmäßig vom 7/11 gekauft) öffentlich trinken kann – öffentliches Rauchen hingegen ist allerdings verboten. So wie vieles andere.

Man kann die guten Beziehungen Deutschlands zu Japan, die bis mindestens ins 19. Jh. reichen, besser verstehen, wenn man sich die Mülltrennung vergegenwärtigt (strikter und differenzierter als in Deutschland), aber auch die Regelliebe verstehen lernt. Das Aufstellen aber auch Durchsetzen von Regeln wirkt hier wie eine Kunst – der Alltag ist bis ins kleinste Detail geregelt – selbst soziale Interaktion scheint nach bestimmten protokollarischen Formen abzulaufen. Was aus Respekt sowieso vor einer Reise gemacht werden sollte, lohnt sich hier richtig: Das Beschäftigen mit den sozialen Gepflogenheiten und Regularien! Denn ohne die Kenntnis derjenigen riskierst du nicht nur andere zu beleidigen, sondern auch dich selbst zu blamieren – im schlimmsten Falle sogar ein Bußgeld (wie im Falle des Rauchens außerhalb der vorgeschriebenen Zonen).

Doch diese (aus unserer Sicht) „Eigenheiten“ sollten nicht gleich exotisiert werden: Dafür gibt es – wie so oft – eine Antwort im Laufe der Geschichte: Der Inselstaat Japan war über 200 Jahre politisch von anderen Ländern abgekapselt aus Angst vor den kolonialen Ansprüchen westlicher Mächte. Als dann die USA mit Waffengewalt die Grenzöffnung erzwang, um Japan in Handelsbeziehungen zu drängen, wollte Japan als gestärkte Einheit gegen westliche Einflüsse dastehen und etablierte eine starke Identitätspolitik, die bis heute währt und sicher auch eigene imperialistische Ausformungen im zweiten Weltkrieg förderte. Auch heute hat Japan wie Deutschland noch Probleme mit Neonazismus und rechten Tendenzen. Und trotzdem ist Japan eher bekannt für Höflichkeit, Ästhetik, Erfindungsreichtum und Innovation. Bei Technik und Digitalisierung ist Japan deutlich weiter als Deutschland, weil der Modernitätsanspruch nach dem zweiten Weltkrieg mit der Siegermacht USA mitzuhalten sich hier mehr durchgesetzt hat als in Deutschland. Und was Ästhetik angeht hat die Lehre des Zen-Buddhismus auch Einzug gehalten in Architektur, Keramik, Inneneinrichtung und vieles mehr. Dabei spielen Einfachheit, aber auch die Schönheit des Vergänglichen eine große Rolle und laden ein, die Welt aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.

Für mich war dieses halbe Jahr auch die Zeit eines anderen Rhythmus. In Japan ticken die Uhren anders und auch der Lebensalltag ist gefühlt ruhiger, strukturierter und oft auch nach innen besinnlicher. Dies lernte ich auch im Rahmen meines Studiums aktiv kennen, als wir uns mit verschiedenen Mönchen trafen, die uns als kleiner Studiengruppe verschiedene Meditationspraktiken (auch aktiv) lehrten und die Einbettung jener in theologische bzw. religiöse Konzepte. Dies alles geschah auf Englisch, da unser aller Japanisch (trotz einem meinerseits durch die Wesser-Foundation dankenswerter Weise gesponsorten Sprachkurses) nicht ausreichte, um sich auf hohem theologischem Niveau auszutauschen. Wer einmal Japan bereisen möchte, empfehle ich sich japanische Freund*innen zu machen, die gut englisch sprechen und übersetzen können – denn die Mehrheit der Bevölkerung kann es nicht. Davon sollte man sich jedoch nicht abschrecken lassen – selten habe ich auf meinen Reisen trotz so starker Verständnisbarrieren so viel Herzlichkeit, Gastfreundschaft und respektvolle Höflichkeit erlebt.

Und wer Japan nach Corona Zeiten bereisen möchte, sollte sich nicht über die Masken wundern – die trug man hier schon vor und wahrscheinlich auch noch nach der Krise: Ob in Tokyos gedrängter U-Bahn oder bei einer Erkältung aus Rücksicht gegenüber anderen. In Japan ticken nämlich nicht nur die Uhren ein wenig anders als bei uns 😉

Onnos Auslandssemester in Kyoto
Markiert in: