Wie kam es zur Gründung von Wesser?
Von meiner Ausbildung her bin ich Hotelkaufmann. Danach kamen ‚wilde‘ EDV-Jobs – quer durch den Garten – so habe ich das Rote Kreuz kennengelernt. Ein Freund von mir hat einen Auftrag bekommen und an mich weitergegeben. Wir sollten für das Rote Kreuz Mitgliederbestände bearbeiten, damit Unterlagen verschickt werden können. Es waren insgesamt 6.000 Mitglieder, damals eine ganze Menge. Als ich die Mitglieder durchging, tauchte als Werber immer wieder der Name „Herr Braun“ auf – so ein Mitarbeiter ist nur mit Gold aufzuwiegen!. Er war ein Erste-Hilfe-Lehrer, der alle Teilnehmer nach seinen Kursen ansprach und bei Interesse als Mitglieder warb. So kam mir die Idee, von Haus zu Haus zu gehen und die Bürger direkt anzusprechen. Damals gab es um die 100.000 Mitglieder im Verband, heute sind es mehrere Millionen.

Wie war Ihre erste Erfahrung als Werber?
Das habe ich damals mit einem Freund ausprobiert, gleich hier in Stuttgart. Am Anfang geht es besser, wenn man nicht alleine unterwegs ist. Wir kamen uns wie zwei Komiker vor. Einer hat im Treppenhaus unten angefangen, der andere oben. Nach einigen Stunden ohne Erfolg, kamen uns erste Zweifel. Es war ziemlich schlechtes Wetter, es regnete ununterbrochen. Als wir dann abends bei einem Zahnarzt klingelten, hat er uns sofort reingebeten und fand es klasse, dass wir bei Wind und Wetter unterwegs waren. Sein Name war A. Kreuzer (Nomen est Omen). Nachdem wir ihm alles erklärten, wollte er mit 200,- Mark mitmachen, seine Frau hat dann den Betrag auf 100,- Mark reduziert. Der durchschnittliche Jahresbetrag lag damals bei 10-15,- Mark. Wir waren so euphorisch, dass wir vor Freude fast die Treppe heruntergefallen wären. Wir haben uns tausendmal bedankt und gemerkt, wie motiviert wir plötzlich waren. Es ist einfach viel leichter, jemanden zu werben, wenn man ihm fröhlich begegnet. In meinen Augen muss man sich durch seinen eigenen Erfolg in diese Richtung schrittweise entwickeln. Als wir merkten, dass es funktioniert, haben wir schon gleich die üblichen Anzeigen in Zeitungen geschaltet: Komm zu uns. Hier kannst du viel Geld verdienen! Betrieblich wurde es schnell eine klassische Geschichte. Wir haben Mitarbeiter gesucht, die sich auf die Inserate gemeldet haben.

War es leichter als heute, neue Mitarbeiter zu finden?
Damals war es so mühsam wie heute, an neue Mitarbeiter zu kommen. Es gab anfangs viele Hausfrauen, die das Werben nebenher machen wollten. Da gab es natürlich noch nicht diese Pro-Kopf-Ergebnisse, die wir von heute kennen. Aber die Arbeitszeiten waren damals schon wie heute. Mittags wurde meistens eine Pause gemacht, damit abends die Leute erreicht werden konnten. Die meisten haben um 10 Uhr angefangen und bis 14 Uhr gearbeitet, nach der Pause ging es ab 17 Uhr wieder los.

Wie hat das Rote Kreuz auf Ihre Idee reagiert?
Wer eine eigene Idee umsetzen will, hat selber immer ein gutes Gefühl, muss die Kunden davon aber erst einmal überzeugen. Das DRK wollte vieles anders umsetzen und war häufig auch skeptisch. Ich wollte da aber nicht locker lassen, habe viel argumentiert und hatte schließlich das Glück, dass mir das Rote Kreuz Stuttgart sein Vertrauen geschenkt hat. Es hat dennoch ein paar Jahre gedauert, bis wir auch außerhalb von Stuttgart werben durften. Rückblickend war es allerdings keine lange Zeit. Der zweite Auftrag kam vom DRK Bühl. Wir haben dort in der Gegend Mitarbeiter eingestellt, damit keiner von Stuttgart aus fahren musste. Die Zielgruppe waren berufstätige Mechaniker oder Kraftfahrer, die bei uns, wenn sie fleißig waren, deutlich mehr verdienen konnten. 

Wie hat sich alles von da an weiter entwickelt?
Anfang der 70er kamen zwei Österreicher zu uns. Sie haben als Ferienjob bei der Post gearbeitet. Als sie meine Anzeige lasen, wollten sie sofort für Wesser nebenher arbeiten. Adam und Eva der Studenten waren damit Dr. Peter Stolz und Erich Berger. Bei der Post waren sie meistens gegen Mittag fertig und sind anschließend noch Mitglieder werben gegangen. Im zweiten Jahr haben sie nur noch für Wesser gearbeitet. Ab da wurde offensichtlich, dass in diesem Job ganz andere Zahlen möglich sind.

Ein Student, der weniger Zeit im Jahr zur eigenen Finanzierung hat, arbeitet mit ganz anderem Ehrgeiz als ein Drucker, der einen Nebenverdienst sucht. Zwei Ideen haben die Firma entscheidend geprägt. Die ERSTE war es, Mitglieder zu werben und beim Roten Kreuz die Bereitschaft zu wecken, uns dafür zu bezahlen. Die ZWEITE war es, mit Studenten zu arbeiten. Junge und motivierte Mitarbeiter gehen ganz anders an so eine Sache ran. Fing ein Bäcker zum Beispiel bei uns an, musste er sich entscheiden, wo er mehr verdient und welcher Job besser zu ihm passt. Studenten haben dieses Problem nicht. Sie sind noch flexibel, haben eine gute Grundausbildung und wollen neue Erfahrungen machen. Die Kombination aus Studium und Wesser als Nebenjob war für mich so ideal und klar – das war für mich die Entdeckung überhaupt. In den darauffolgenden Jahren hatte sich das immer weiter herumgesprochen. So kamen in den 70ern immer mehr österreichische Studenten zu uns. Anfangs war das fast ein „Geheimnis“, das sich von Mund zu Mund herumgesprochen hat. Manche haben teilweise nur einen oder zwei Freunde aus Graz mitgebracht, damit die Teams nicht überlastet werden. Dennoch war das Wachstum enorm. Wir hatten mehr gute Bewerbungen, als wir einstellen konnten. Die neuen Standorte sind dann über die Jahre relativ synchron dazugekommen. Die Teams sind jedes Jahr etwas größer geworden.
Dr. Peter Stolz und Erich Berger gehörten auch später zu den ersten wichtigen Teamleitern, die jedes Jahr neue Mitarbeiter mitgebracht haben. Berlin war der dritte große Standort. Alle weiteren Bundesländer und Kunden kamen schrittweise dazu.

Wie hat sich Wesser am Markt etabliert?
Es hat relativ lange gedauert, bis neue Firmen mit ähnlichen Konzepten aufgetaucht sind. Eigentlich waren wir immer diejenigen, die kopiert wurden – was wohl eine gute Sache ist. Parallel zur Mitgliederwerbung hat Wesser EDV-Schnittstellen entwickelt. Das war dann praktisch ein anderes Unternehmen. Anfangs gab es Helmut Wesser Werbung und die Wesser GmbH, die ich mit einem Partner, einem EDV-Spezialisten, aufgebaut habe. Das Tagesgeschäft haben wir unter der Woche erledigt und die Buchhaltung am Samstag und Sonntag. Wobei er früh wieder ausgeschieden ist. In der Gründungsphase muss man einfach ständig investieren und weiß nicht, ob alles am Ende aufgeht. Da ihm das Risiko zu groß war, habe ich seine Anteile übernommen. 1973 haben wir in Ludwigsburg beim DRK die neue Wesser EDV eingeführt. Es war ein schöner Moment, als viele Sanitäter des Krankenhauses lernten, wie man die Fahrten mit der Wesser EDV abrechnet. Wir haben schrittweise alles, von Lohnabrechnungen bis hin zu Krankentransporten, verwaltet. Das Ganze hatte einen wichtigen Hintergrund. Wenn eine Firma Gehaltsabrechnungen und ähnliche Dienstleistungen anbietet, wird sie automatisch als solide wahrgenommen. Dieser solide Background war nicht besonders gewinnbringend, gab uns aber ein besseres Image. So konnte die Mitgliederwerbung Stück für Stück zu einem eigenständigen soliden Geschäftsbereich wachsen. Das war eine Marketingentscheidung, die sehr gut geklappt hat. 1975 konnte Wesser in ein eigenes Büro ziehen. Das war damals schon die Königstraße 30, die bis heute unsere Anschrift geblieben ist. Ende der 70er hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, wir haben die Kleinigkeiten im Griff, wir sind auf einem guten Weg. Ich muss vielleicht nicht mehr jede Woche 7 Tage am Stück arbeiten und kann auch mal kurz Urlaub machen – anders geht es einfach nicht. Wer seine Ideen umsetzen will, muss schon sehr stark an sich selbst und sein Ziel glauben. Eigentlich muss man hier nur eine Sache mitbringen: Fleiß! Wer das hat und immer weiter geht, der kann, damals wie heute, seine Ziele verwirklichen.

Was zeichnet Wesser für Sie aus?
Die Firma Wesser ist über die Jahre immer stabiler geworden, obwohl ein paar wichtige interne Mitarbeiter in den 90ern versuchten, eigene Werbefirmen zu gründen. Manche gibt es bis heute noch – das führte damals natürlich zu großen Auseinandersetzungen. Wir hatten aber super Personal und konnten die Lücken mit unseren eigenen Mitarbeitern schnell schließen. Rückblickend war ich überrascht, wie wenig wir diese Turbulenzen spürten. Da wurde mir noch einmal deutlich, dass wir zumindest nicht der kleinste Fisch im Becken sind und ein super Verhältnis zu unseren Mitarbeitern haben. Gemeinsam haben wir alle diese Herausforderungen gemeistert.

Vor allem ist Wesser immer mehr eine große Familie geworden, bei der sich alle gegenseitig unterstützen. Bei uns sind unzählige Freundschaften, Familien und sogar Ehen entstanden. Es ist schön, dass diese Idee nach 50 Jahren immer noch so gelebt und weiterentwickelt wird.

Das Interview führte Oliver de Magalhaes Kunze

Ein Rückblick mit Helmut Wesser